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Abstract :
[en] Die Adorno-Forschung findet derzeit wachsendes Interesse im französischsprachigen Raum.
Zwar wurde Adornos Denken in Frankreich spät und immer stückweise rezipiert, wobei vor
allem seine Arbeiten zur Soziologie, Ästhetik und Philosophie herauszuheben sind, aber es wäre
doch verfehlt zu glauben, dass es zu seinen Lebzeiten völlig übergangen worden wäre. Seine
Beziehungen zu verschiedenen französischen Zeitschriften wie Diogène, Mercure de France,
Preuves, Communications und Arguments sowie zu Gelehrten wie Edgar Morin, Kostas Axelos,
Lucien Goldmann und anderen bezeugen, dass er in der Tat bestimmte Tendenzen des
französischen Denkens bereits seit den 1950er Jahren stimuliert hat. Überdies legen seine
Auftritte in der Sorbonne 1958 und im Collège de France 1961 Zeugnis ab von seiner
Auseinandersetzung mit den intellektuellen Kreisen Frankreichs und insbesondere mit der
Bedeutung der Heidegger’schen Philosophie für sie, mit einem Denken also, das sich ja als so
entscheidend für die geistige Entwicklung des Frankfurter Philosophen und für die Erarbeitung
der Negativen Dialektik erwiesen hat.
Der Austausch und Dialog, der sich zwischen Adorno und Frankreich entfaltete, ist freilich
keineswegs auf eine einfache Rezeption beziehungsweise eine Aktualisierung seiner kritischen
Theorie beschränkt. Die Praktiken, die in Frankreich in der mehr oder weniger
konfliktgeladenen Kontinuität seiner Pariser Auftritte entstanden, entwickelten sich sehr rasch
in ganz spezifische Richtungen – man denke nur an die Fragment-Praxis in Arguments oder an
die semio-anthropologische Faszination gegenüber der Kulturindustrie und der
Massenkommunikation, wie sie sich um Intellektuelle wie Morin, Barthes und Friedmann in
der Zeitschrift Communications herausbildete. Zwischen der Radikalisierung der Kritik an der
Kulturindustrie in der Nachfolge der Adorno’schen Kritik und einer reformistischen Reaktion
auf dieselbe, zeigen die Entwicklungen im französischen Denken eine ganze Reihe von
Verwerfungen, die es ermöglichen, die Bedeutung des Dialogs mit der Frankfurter Philosophie
und einer gewissen Taubheit ihr gegenüber richtig einzuschätzen.
Im Gegenzug bildet die Beziehung, die sich allmählich zwischen dem deutschen
Philosophen und Paris geknüpft hat – einer Stadt übrigens, die er als unbedeutend im
derzeitigen industriellen und rationellen Entwicklungsprozess der modernen Gesellschaft ansah
– , ein Schlüsselelement seines Denkens und Werkes und stellt gewissermaßen einen Raum
bereit, der kritischen Abstand und philosophische Reflexion fördert. Praktisch jede seiner
Auslandsreisen führt über Paris, wo er in der Tat eine Form intellektuell heiterer Gelassenheit
und geistiger Obhut für das „staatenlose“ Denken zu seinen Minima Moralia vorfindet. Adornos
Pariser Aufenthalte schreiben sich in sehr verschiedenartige sozio-politische Kontexte ein und
müssen in ihrer je eigenen Besonderheit gesehen werden, und zwar als Verbindungen eines
selbst in Bewegung befindlichen Denkens zu einer jeweils anders sich darbietenden
historischen und geografischen Situation. Wie also soll die Chronologie des Adorno’schen
Werkes im Lichte der verschiedenen Pariser Aufenthalte und unter Berücksichtigung der
jeweiligen Pariser Gesprächspartner, die seine theoretischen Ansichten und Interessen geprägt
haben, neu überdacht werden? Inwieweit beeinflussten bestimmte Kontakte – wie etwa zu Jean
Wahl und Georges Bataille 1937, zu Michel Leiris und René Leibowitz 1951 oder auch zu
Samuel Beckett 1958 – möglicherweise sein Denken oder bezeugen im Gegenteil die Alterität
beziehungsweise Isolation der französischen Kunstszene im Verhältnis zur deutschen
Philosophie? So befragt, könnten vielleicht die Pariser Aufenthalte die bisweilen
widersprüchlichen Verwerfungen, Umschwünge, Unsicherheiten und die intellektuellen
Interessen Adornos neu beleuchten. Paris bleibt für ihn außerordentlich wichtig, weil ja dort die
zwiespältigste und auch originellste Rezeption der deutschen Philosophie stattfand, von Hegel
bis Heidegger über Marx, Schopenhauer und Nietzsche, also all der Denker, mit denen die
Frankfurter kritische Theorie in Diskussion und Widerspruch steht. Die Vorträge im Collège de
France stellen eine echte Phase der Vorbereitung, des Ausprobierens und des
Gegeneinanderhaltens der Grundideen der Negativen Dialektik dar, zumal ja die drei in
französischer Sprache gehaltenen Vorträge die jeweilige Basis mehrerer Teile dieses
Adorno’schen Hauptwerks bilden.
All diese verschiedenen Aspekte des Verhältnisses zwischen Adorno und Frankreich wollen
wir vertiefen und dabei seine Rezeption zu Lebzeiten genauer erforschen, das heißt seine Pariser
Auftritte und seine beruflichen und persönlichen Beziehungen zu den französischen
Intellektuellen in den 1950er und 1960er Jahren; aber darüberhinaus soll auch seine posthume
Rezeption untersucht werden. Wir schlagen folglich vor, im Rahmen dieser Studientage die
Reflexion in zwei Hauptrichtungen zu lenken:
- Eine erste Fragestellung richtet sich auf die Art und Weise, wie die französische
Intellektuellenszene sich im Verhältnis beziehungsweise in Reaktion oder gar
Gleichgültigkeit gegenüber der sich intensivierenden Rezeption Adornos in Frankreich
entwickelt, und zwar von der Masseninformation und kommunikation über die
Praktiken des Nouveau Roman bis hin zur strukturalen Semiologie. Inwieweit sind seine
Auftritte, die Übersetzungen seiner Schriften und die Kommentare zu seinem Werk
Antrieb beziehungsweise Hemmschuh der jeweiligen intellektuellen Strömungen in
Frankreich gewesen?
- Im direkten Anschluss an diese Fragestellung sollten die französischen Auftritte
Adornos unseres Erachtens zugleich als in sich abgeschlossene Denkprozesse und als
Neuanstöße zu einem dynamischen dialektischen Denken reflektiert werden. Daher gilt
es, seine und die von ihm beeinflussten intellektuellen Arbeiten unter zweierlei
Gesichtspunkten zu untersuchen: einerseits durch die Erforschung der Abhandlungen in
ihrer je eigenen kontextuellen, philosophischen, raum-zeitlichen Singularität und
andererseits durch ihre jeweilige Verortung im weiteren Raum der philosophischen
Entwicklung, wobei sämtliche konkrete Praktiken des Diskurses, des Verhältnisses zum
publizierten Werk, des formlosen Austauschs und der öffentlichen Rede mit einbezogen
werden sollten, um zum Verständnis für die Bedeutung der deutsch-französischen
Dialoge für Adornos Werk zu gelangen.